FSM-Bericht 6/2024: Verbesserte Nutzung des Betriebsfestigkeitspotentials von freien thermisch geschnittenen Kanten in schiffbaulichen Stahlkonstruktionen (Brennschnittkanten)

Technische Universität Hamburg – Institut für Konstruktion und Festigkeit von Schiffen
M.Sc. Jan-Hendrik Grimm

Technische Universität Braunschweig – Institut für Füge- und Schweißtechnik IfS
Dipl.-Ing. Markus Köhler

Das im Folgenden dargestellte Forschungsprojekt „Verbesserte Nutzung des Betriebsfestigkeitspotentials von freien thermisch geschnittenen Kanten in schiffbaulichen
Stahlkonstruktionen“ wurde gefördert von der gemeinnützigen Stiftung Stahlanwendungsforschung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V. Zweck der Stiftung ist die Förderung der Forschung auf dem Gebiet der Stahlverarbeitung und –anwendung in der Bundesrepublik Deutschland. Geprüft wurde das Forschungsvorhaben von
einem Gutachtergremium der Forschungsvereinigung der Arbeitsgemeinschaft der Eisen und Metall verarbeitenden Industrie e.V. (AVIF), das sich aus Sachverständigen der Stahl anwendenden Industrie und der Wissenschaft zusammensetzt. Begleitet wurde das Projekt von einem Arbeitskreis des Verbandes für Schiffbau und Meerestechnik e.V. (VSM) sowie der Forschungsvereinigung Schiffbau und Meerestechnik e.V. (FSM).

Der Bericht kann beim FSM bestellt werden. Bitte senden Sie eine E-Mail an info(at)fsm-net.org 

Zusammenfassung

Die Stahlkonstruktionen von Schiffen zeichnen sich dadurch aus, dass mit Hilfe von Profilen und Trägern ausgerüsteten Paneelen ganze Sektionen des Schiffskörpers gefertigt werden. Neben diesen geschweißten Komponenten werden einzelne Bereiche immer mit Öffnungen versehen, um beispielsweise Lukenecken im Oberdeck von Containerschiffen oder großen Fenstern in Passagierschiffen zu erhalten. Gerade die letztgenannten Fensteröffnungen haben sich im Laufe der letzten Jahre im europäischen Schiffbau zu einem wichtigen Konstruktionsdetail entwickelt, da die Entwürfe im Schiffsdesign einen Trend zu immer größeren Fenstern im Bereich von Außenkabinen beim Bau von Kreuzfahrtschiffen und Yachten zeigen. Größere Öffnungen und damit verminderte Strukturen sind bei der Betrachtung im Festigkeitsnachweis immer einem besonderen Augenmerk aufgrund der zu erwartenden Spannungskonzentrationen zu unterziehen. Das bedeutet, dass jegliche Art von Ausschnitten aus den schiffbaulichen Paneelen im globalen und lokalen Festigkeitsnachweis zu berücksichtigen und mit den geltenden Regelwerken der Klassifikationsgesellschaften zu bewerten sind. Weiterhin ist der Trend wahrzunehmen, die stahlbauliche Konstruktion aus der Motivation der Gewichtsersparnis mit immer geringeren Plattendicken zu gestalten. Um die Tragfähigkeit der Struktur im Gleichschritt mit einer ausreichenden Festigkeit zu versehen, finden zunehmend höherfeste und in Zukunft unter Umständen auch hochfeste Stähle mit Streckgrenzen von bis zu 690 N/mm2 Einsatz.

Diese Optimierung der schiffbaulichen Strukturen ist gleichwohl mit der Anforderung versehen, das Strukturverhalten korrekt bewerten zu können. Im Nachweis der Festigkeit des Schiffskörpers wird im Falle der Betriebsfestigkeit traditionell den geschweißten Verbindungen eine große Bedeutung eingeräumt. Doch auch die freien Blechkanten werden aus den zuvor genannten Gründen immer bedeutsamer in ihrer Auslegung. Diese Blechkanten entstehen in der Regel auf den Fertigungsanlagen der Werften durch thermische Trennverfahren wie dem Plasmaschneiden oder dem autogenen Brennschneiden. Solche Blechkanten werden im fortlaufenden Fertigungsprozess im Regelfall mit Hilfe unterschiedlicher Werkzeuge bearbeitet, um eine möglichst kerbarme Geometrie zu erhalten und den Anforderungen an Beschichtungssysteme zu entsprechen.

Die Empfehlungen zur Bewertung der Betriebsfestigkeit solcher Details basieren zum Teil auf einige Jahrzehnte zurückliegende Forschungsergebnisse, die unter Umständen nicht mehr dem derzeitigen Stand der Technik entsprechen. Dieser Sachverhalt wurde in den Vorgesprächen mit den Vertretern der Industrie bemängelt, da er zu einer zu konservativen Gestaltung der Struktur führe. Dies ist einhergehend damit, dass in dünnwandigen Strukturen häufig Einsatzplatten mit einer größeren Materialdicke verbaut werden, um die lokale Spannungskonzentration abzumildern. Insbesondere dieses Einbringen von zusätzlichem Material bedeutet einen hohen Kosten- und Arbeitsaufwand für den jeweiligen Betrieb. Zudem ist zusätzliches Material auch immer einhergehend mit höherem Gesamtgewicht des Schiffes, was nach Möglichkeit vermieden werden sollten. Genau an diesem Punkt greift dieses Forschungsvorhaben den aktuellen Bedarf nach neuen Erkenntnissen in der Bewertung dieser Konstruktionsdetails auf. Zwar finden sich in der Literatur fortlaufende Untersuchungen zum Ermüdungsverhalten unterschiedlicher thermisch geschnittener Kanten, jedoch wurde dabei bisher der Effekt einer definierten, einheitlichen Nachbehandlung der Kantengeometrie außer Acht gelassen.

Das Ziel dieses Vorhabens ist es, das Ermüdungsverhalten von thermisch geschnittenen Stahlblechkanten mit einer definierten Nachbehandlung der Kante zu untersuchen. Die Ergebnisse sollen dazu dienen, den aktuellen Stand der Technik besser abbilden zu können und schiffbauliche Strukturen konstruktiv effektiver ausschöpfen zu können. Um das Gesamtziel zu erreichen, wurden folgende Teilaufgaben definiert, die dazu dienen, abschließend Empfehlungen abzuleiten:
1. Ermittlung des aktuellen Stands der Technik auf Basis von Referenzproben, welche durch die Teilnehmer mit den jeweils üblichen Behandlungsmethoden bearbeitet wurden. Zudem wurde auf Basis dieser Versuche eine einheitliche Methode festgelegt, welche für die folgenden Untersuchungen angewendet wurde
2. Bestimmung der Werkstoffeigenschaften durch umfangreiche Charakterisierung von Probenkörpern
3. Ermittlung des Ermüdungsverhaltens unterschiedlicher Probenserien mit konstanten und variablen Lastamplituden
4. Einordnung und Analyse der Ergebnisse, Ausarbeitung von Empfehlungen für die industrielle Anwendung

Die Teilaufgaben wurden an den beiden beteiligten Forschungsstellen bearbeitet und in regelmäßigen Sitzungen mit dem projektbegleitenden Ausschuss diskutiert.

Auf Basis der genannten Arbeitspunkte konnte gezeigt werden, dass die thermisch geschnittenen Brennschnittkanten mit einer definierten Nachbehandlung ein Ermüdungsverhalten zeigen, welches zum Teil deutliche höhere Kennwerte erzielt, als in den verfügbaren Empfehlungen und Regelwerken offeriert wird. Zudem konnte gezeigt werden, dass eine Nachbehandlungsmethode, die mit werftüblichen Werkzeugen appliziert werden kann, wirksam für alle untersuchten Serien angewendet werden konnte. Für die geometrische Form wurde sich dabei für eine Fase entschieden, die mit dem Schleifprozess in Längsrichtung aufgebracht wurde.
Die gewählte Methode mittels Stabschleifer und passendem Schleifaufsatz konnte ähnliche gute Werte erzielen, wie sie an Referenzserien zu finden waren, die mittels CNC-Maschine einen Radius oder eine Fase an allen Kanten erhielten. Weiterhin konnte herausgestellt werden, dass die Streckgrenze der untersuchten Stähle einen deutlich erkennbaren Einfluss auf das Ermüdungsverhalten und die ertragbaren Lasten hat. Mit zunehmender Werkstofffestigkeit, bis zu der höchsten in diesem Vorhaben untersuchten Stahlsorte S690, konnte ein kontinuierlicher Zuwachs im Ermüdungsverhalten beobachtet werden.

In der näheren Betrachtung des Versagensverhaltens konnte herausgestellt werden, dass die Betrachtung der Anrissorte als Bewertungskriterium einer wirksamen Nachbehandlungsmethode herangezogen werden kann. Freie Blechkanten ohne eine Nachbehandlung weisen, häufig eine Rissinitiierung an den scharfkantigen Ecken auf, welche einhergehend mit der lokalen Spannungskonzentration an diesem Punkt sind. Durch Aufbringen eines Radius oder einer Fase konnte gezeigt werden, dass die Anrisse verlagert werden und von der Schnittfläche oder der Plattenoberfläche erfolgen.

Insgesamt kann festgehalten werden, dass die erzielten Ergebnisse einen merklichen Mehrwert für die Bewertung von thermisch geschnittenen Kanten im Betriebsfestigkeitsnachweis liefern. Nachfolgend werden die ausgearbeiteten Kennwerte mit den im Vorhaben beteiligten Klassifikationsgesellschaften diskutiert, um die
Erkenntnisse nach Möglichkeit in den Empfehlungen und Regelwerken zu berücksichtigen. Dieses Vorhaben trägt somit dazu bei, die Bewertungsmöglichkeiten im Festigkeitsnachweis zu verbessern und das Potential von neuen Schiffbaukonstruktionen besser auszuschöpfen.